Im Osten

Im Osten

Unsere jüngste Tochter war seit einem halben Jahr in den USA, würde die Klasse elf an einer amerikanischen Schule absolvieren. Eine Gastfamilie in Sandusky, Ohio, war ihr Zuhause für ein Jahr. Sie besuchte die Highschool, um den amerikanischen Abschluss zu machen.
Unsere älteste Tochter suchte ihre Eigenständigkeit um jeden Preis, hatte eine eigene Wohnung und befand sich in einem Selbstfindungsprozess.

Zu dem Zeitpunkt wurde ich gefragt, ob ich übergangsweise einen zweieinhalbjährigen Jungen als Tagesmutter betreuen könnte. Ein Arztehepaar suchte händeringend nach Hilfe.
Mir wurde bewusst, nichts hatte sich geändert, seit unsere Kinder klein waren. Vor dem vierten Lebensjahr bestand kaum eine Chance auf einen Kindergartenplatz. Hatte man einen ergattert, war der Aufenthalt bemessen. Einlass ab acht Uhr. Um Punkt zwölf Uhr standen die Kinder vor der Tür. „Bitte seien Sie pünktlich“, wurde gemahnt. Wer sich keine Tagesmutter leisten konnte oder eine Oma hatte, die unterstützend half, blieb zu Hause.
Ich sprang ein, zumal die Zeit bemessen war. Malerei und Ausstellungen nahmen mich in Anspruch. Am Freitagabend kam Ralf nach Hause mit Gesprächsbedarf, Schmutzwäsche und Appetit auf vernünftiges Essen. Kantinenessen und am Abend eine Tafel Schokolade machten ihm zu schaffen. Er vermisste die gewohnte Küche.
Sonntag Mittag ging sein Zug zurück nach Magdeburg. Mein Bedürfnis, von mir zu erzählen, fiel der knappen Zeit zum Opfer. Würden wir uns auseinanderleben? Jeder lebte für sich. Geht Liebe, Freundschaft verloren, wenn keine Nähe da ist? Verrinnende Zeit schleicht sich als Kumpel ein, gaukelt hämisch: Aus den Augen, aus dem Sinn.

In der Woche zu telefonieren, erwies sich als schwierig. In seiner Pension gab es keinen Telefonanschluss. Im Büro war er auch nicht zu erreichen. Abends versuchte Ralf, mich zu erwischen. Die Telefonzelle in Burg funktionierte nicht immer. Vergebens hielt ich mich in der Nähe des Telefons auf. Viele Schaltungen waren zu überwinden. Eine Auslandsvorwahl war Vorbedingung, aber nicht verlässlich.
Zum ersten Mal fuhr ich Ralf besuchen. Nicht sehr zugerfahren, hatte ich mich aufgemacht. Dreieinhalb Stunden Bahnfahrt, dann fuhr der Zug in den Magdeburger Hauptbahnhof ein. Ostdeutschland. Kein Grund sich aufzuregen. Aber mein Herz klopfte heftig.
In Burg war Ralf ein Zimmer zugewiesen worden. Ein kleiner Raum mit Doppelbett, einem Tisch, zwei Stühlen und einer Nasszelle. In dieser Pension waren außer ihm noch fünf Westdeutsche untergebracht. Das Frühstück konnten sie in der Kaserne „Krähenberge“ einnehmen, wo provisorische Büros eingerichtet waren. Der Pensionspreis ohne Frühstück betrug 60,- DM.
Die monatlichen Kosten von 1.800,- DM übernahm das Land Nordrhein-Westfalen.
Ich konnte nicht glauben, was mangelnde Unterbringungsmöglichkeiten für Blüten trieben. Die Marktwirtschaft war im Osten angekommen.

Burg erschien mir grau und abweisend. qualmende Schornsteine bliesen gelblichen Rauch in den Himmel, legten sich auf die Atmung. Es bestürmten mich Gerüche, die meine Kindheit im Ruhrgebiet ausgemacht hatten. Altersschwache, dem Verfall preisgegebene Fachwerkhäuser regten meine Fantasie an, ließen mich restaurierte Häuser sehen, Schmuckstücke.
Hoffentlich begehen sie hier nicht die gleichen Fehler wie im Westen, wo Fachwerk der Moderne weichen musste.
Unbefestigte Straßen machten auf mich und mein unpassendes Schuhwerk Eindruck. Ich balancierte von Steininsel zu Steininsel, um den Weg ins Gasthaus zu überwinden.
Kaum eine Laterne beleuchtete unseren Heimweg. Es hatte geregnet. Vergebens suchte ich nach meinen vor Matsch schützenden Inseln. Sie entzogen sich mir durch Dunkelheit. So schmatzte es geräuschvoll unter meinen leichten Schuhen. Dicke Erdklumpen hatten sich um sie gelegt. Da ich nur dieses eine Paar dabei hatte, lief ich in der Pension auf Socken, hoffte, meine Schuhe, die vom Lehm befreit auf der Heizung trockneten, am nächsten Morgen tragen zu können.
Ralf hatte über seinen Vermieter das Frühstück organisiert. Eine Frau brühte Kaffee, Brot, Wurst und Käse standen bereit.
Ralfs alter Mercedes, den er vor Jahren erworben, mit Herzklopfen und schweißnassem Hemd in Düsseldorf abgeholt hatte, machte was her. Hier im Osten war das Straßenbild von Trabbis bestimmt. Man hätte denken können, sie überschritten alle Geschwindigkeitsrekorde. Kopfsteinpflaster trug lärmend zu diesem Eindruck bei.

Auf der Strecke von Burg nach Magdeburg taten weite, grüne Ebenen dem Auge und der Seele gut. Wilder Mohn hatte sich zwischen kultiviertem Weizen seinen von alters her beanspruchten Platz erhalten, färbte die Äcker rot.

Ein Wochenende der Orientierung. Ich fühlte mich wie eine Zeitreisende, die sich nur alles ansehen müsste, um unterschiedliche Welten in Übereinstimmung zu bringen. Würde es wirklich so einfach sein?

Magdeburg zeigte sich als eine Stadt von Gegensätzen.
Ein undefinierbarer Ascheton lag über Stadt und Menschen. Alte, martialische Bauten verkamen als russische Kasernen. An ihren Mauern wucherte blühend Unkraut.
Eine Allee, eingerahmt von dicken alten Bäumen, durchschnitt diesen weitläufigen Park. Rechter Hand standen heruntergekommene Herrenhäuser, die eine längst vergangene Blütezeit erahnen ließen. „Auch hier hatten bis vor kurzem Russen gehaust“, erklärte Ralf.
Die floss unbeeindruckt von geschichtlichem Wandel durch scheinbar unberührte Landschaft. Das gefiel mir. Verschlungene Wege, von Wiesen, Sträuchern und mächtigen Bäumen gesäumt, führten uns zu einem gediegenen wirkenden Lokal – dem Herrenkrug. Wie in einem Dornröschenschlaf versetzt, kam mir all das vor.
Auf der Rückfahrt zeigte Ralf mir seine Arbeitsstelle. Ein holpriger Weg führte uns an einen Schlagbaum, an dem junge Männer mit Maschinenpistolen standen und wachten. Ralf legte seinen Ausweis vor. Der Schlagbaum hob sich. Wir fuhren auf das Gelände. Inmitten von Wellblechhütten, in denen Soldaten kaserniert lebten, stand ein Steinhaus, in dem sich Ralfs Büro befand.

Auf der Rückfahrt nach Essen döste ich vor mich hin, spürte Erlebtem nach, war verwirrt.

Das Ruhrgebiet, immer noch als „Malochergegend“ verschrien, war eine dicht besiedelte Industrielandschaft. Mit ihren ineinander übergehenden Städten haben die Ballungszentren kaum Grünflächen aufzuweisen. Öffentliche Parkanlagen sind eine Bereicherung. Es gibt bevorzugte Wohnviertel mit Wald und üppigen Grünzonen. Hohe Mieten machen das Wohnen dort zum Luxus. In den letzten Jahren hatten wir die Ferien in ländlichen Regionen Frankreichs verbracht. In kleinen Ortschaften trugen Männer blaue Arbeitskleidung, Frauen Schürzen oder Kittel über der Kleidung. In kleinen Gemeinden rund um Magdeburg sah ich Vergleichbares, fühlte mich an Frankreich erinnert. Nur die Atmosphäre unterschied sich. Es fehlte diese Unbeschwertheit, der Plausch auf der Straße. Die Menschen im Osten erschienen mir bedrückt. Zu Hause wartete niemand auf mich. Die noch frischen Eindrücke schrieb ich in mein Tagebuch. Unsere Tochter kam aus den Staaten zurück. Ein Jahr hatten wir uns nur geschrieben. Wir holten sie am Flughafen ab. Freunden aus ihrer Jahrgangsstufe hatte ich den Wohnungsschlüssel überlassen. Als wir in unsere Straße fuhren, leuchtete uns flatternd ein großes Laken entgegen, das über dem Balkon hing. In farbiger Schrift hieß es die Weltenbummlerin willkommen. In unserer Wohnung wimmelte es nur so von jungen Menschen. Wortfindungsstörungen im Deutschen, begleitet von diesem amerikanischen Akzent. Ich staunte, dass ein Jahr sich so bemerkbar machte. Es wurde wieder turbulent zu Hause.

   
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