Dachlukenkind

Dachlukenkind

Tagebuchauszug:

25.8.98
Es ist 20 Uhr 30 und mein Bruder ruft mich an.
Er wollte mir nur sagen, dass er sich gefreut hat, weil ich am Samstag so gut drauf war und ausgeglichen schien.

Memo: 22.8.98
Mein Bruder feiert bei unserer Schwester seinen 40. Geburtstag nach. Lange überlegte ich, ob ich hingehen sollte. Aber irgendwann muss ich der Frau, die mich geboren hat, ja mal wieder unter die Augen treten.
Wir dürfen an den Wochenenden heimfahren. Ich entschied, ich gehe hin.
Meine Mutter steht ganz hinten und kommt bei der Begrüßung zuletzt dran. Ich gebe ihr die Hand, komme ihr mit meinem Kopf entgegen und unsere Lippen berühren sich.Ich spüre Eiseskälte.
Nach dreieinhalb Stunden gehen wir. Die Verabschiedung ist noch kälter.
Wir geben uns die Hand, die Köpfe neigen sich zueinander, treffen sich an den Ohren. Ein kaltes "Tschüss" kommt über ihre Lippen, das ist alles, was sie mit mir an diesem Abend sprach.
Ich bin sehr angespannt. Von Ausgeglichenheit keine Spur. Umso besser, dass ich auf ihn so einen entspannten Eindruck gemacht habe.
Er versprach am Donnerstag wieder anzurufen.

27.8.98
Meine Gisela hat gerade angerufen. Sie ist gut heimgekommen.
Das Telefon klingelt wieder. Es ist mein Bruder.
Nach kurzer Unterhaltung über Mutter sagt er plötzlich, er habe noch etwas in petto. Darüber würde er aber erst erzählen, wenn Mutter tot ist.
Das hätte er besser nicht sagen sollen.
Nun lasse ich ihm keine Ruhe mehr. Ich dränge ihn und bin aufgeregt.
Mit weinerlicher Stimme legt er los: "Hast du schon mal was von Vergewaltigung gehört?“
Mein Herz rast, Tränen laufen mir übers Gesicht und ich frage: "Mutter dich?“
Er: "Ja!"
Wir beide weinen.
Ich schnappe meine Weste renne auf den Hof vorbei an meinen Mitpatienten. Ohne ein Wort. Ich lehne mich an einen Baum, zünde mir mit zitternden Händen eine Zigarette an und heule jämmerlich.
Im gleichen Moment höre ich die Stationstür ins Schloss fallen. Ein Fenster geht auf. Alle suchen mich.
Sie bringen mich in ihr Zimmer. Ich weine mich aus. Dann muss ich erzählen, was passiert ist. Ich sehe Entsetzen in ihren Gesichtern. Manche können die Tränen nicht verbergen. Die Spätdienstschwester ruft den diensthabenden Psychologen. Wir haben ein langes Gespräch. Das tut gut. Er gibt mir eine starke Beruhigungstablette für die Nacht.
Meine Mitpatienten schenken mir Schokolade. Mit meiner Zimmernachbarin und einem jungen Mitpatienten gehe ich nach draußen zum Rauchen. Ich werde schnell müde.

Freitag, 28.8.98
6 Uhr 45, ich bin schon geduscht.
Meine Lieblingsschwester hat Frühdienst und weckt uns.
Heute kommt sie richtig ins Zimmer. Sie schaut mich an und fragt, wie es mir geht. Natürlich hatte sie bei der Dienstübergabe alles vom Vorabend erfahren.
Sie ist sehr einfühlsam. Beim Frühstück setzt sie sich neben mich. Wir sprechen darüber.
Sie meint, ich dürfe jetzt meine Ziele nicht aus den Augen verlieren und nicht zuviel Hass zulassen. Sie sagt, Mutter habe sicher auch ihre Probleme gehabt. Das kann ich nicht verstehen. Es kann doch nichts geben, wodurch so etwas gerechtfertigt ist.
Meine Zimmernachbarin erzählt mir, dass sie einen wilden Traum hatte. Unsere gesamte Familie sei von der Polizei abgeholt worden. Auch andere, die am Vorabend mit mir zusammen waren, träumten in der vergangenen Nacht sehr wild.
Um viertel neun ist Musiktherapie.
Ich komme schon verheult hin. Ich will nur spielen und erst danach reden.
Dann habe ich die Pauke geschlagen. Auf der großen habe ich Mutter verdroschen. Hinterher habe ich an zwei Fingern Blasen. Ab und zu schlage ich zu den kleinen Pauken hinüber. Das sollte wieder Ruhe in mich bringen.
Die Therapeutin spielt auf dem Klavier ein langsames Lied und ich passe mich ihr immer mehr an. So werde ich langsam wieder ruhiger.
Wie gut, jetzt in diesem geschützten Rahmen zu sein. Wir sind nicht allein. Wir werden aufgefangen. Es tut gut. Ich brauche diese Hilfe, um mein Leben wieder in Ordnung zu bringen.
Zwischendurch überfallen mich Gedanken, dass ich wohl nicht genug auf meine Geschwister aufgepasst hatte.
Aber hätte ich das alles verhindern können?
Mein größter Trost ist, dass meine kleine Schwester von all dem hat nichts erleben müssen. Ich möchte mir gar nicht vorstellen, wenn diesem kleinen Sonnenschein Ähnliches passiert wäre wie mir. Ich konnte deshalb auch sehr lange nicht loslassen. Machte mir immer Sorgen um sie.
Sie hat schon längst ihre eigene Familie gegründet und sich abgenabelt, war auch im Beruf erfolgreich. Doch für mich ist sie immer noch die Kleine.

Meine Gisela ruft am Morgen an. Sie hat unruhig geschlafen. "War etwas?", fragt sie.
Sie muss es gefühlt haben. Am Telefon will ich aber nicht darüber sprechen.
Im Einzelgespräch mit der Oberärztin ist der gestrige Abend ein Thema. Sie sagt, dass ich ruhig Hass empfinden darf. Nur soll ich mich und meine Ziele dabei nicht vergessen.
Schnell zum Münztelefon! Rufe meine Gisi an. Sie kommt gleich. Ich kaufe ihr von meinem letzten Geld einen kleinen Strauß Nelken.
Dann ist sie endlich da!
Wenn sie mich abholt, sitzen wir stundenlang in unserer Küche und erzählen. Das tut uns gut.
Doch dann bricht alles aus mir heraus.
Meine Gisela sagt, gut, dass ich es ihr gleich erzählt habe. Sie ist immer für mich da. Will mir immer beistehen.
Später sehen wir die Oberärztin. Sie lächelt uns zu. Sie wird ahnen, dass ich erleichtert bin und alles erzählen konnte.
Die Gruppe sieht sich am Nachmittag irgendeinen Chaotenfilm an. Ich habe mir Stickzeug mitgenommen, will mich ablenken.
Nun ist es so weit, wir gehen zur Entspannung. Den ganzen Tag hat mich die Frage beschäftigt: "Mache ich mit oder nicht?"
Doch, ich will es wissen.
Zu Beginn fühle ich mich locker und ruhig.
Ich spanne den rechten Oberarm an und fühle große Wut in mir hochsteigen.
Was in diesem Moment mit mir passiert, kann ich nicht beschreiben. Nun will ich den linken Oberarm anspannen. Da geschieht es wieder: Bilder – klar und deutlich! Rumpf, ohne Kopf, Arme und Beine. Große Männerhände machen sich im Genitalbereich zu schaffen. Ich erschrecke und hole mich sofort zurück. Meine Augen füllen sich mit Wasser. Ich will mich zur Ruhe zwingen. Die rechte Hand beginnt zu zittern. Da sah ich eine kleine, dicke Kinderhand auf einem großen Penis. Es ist vorbei mit der Beherrschung. Ich weine nur noch. Als ich die Augen öffne, kann ich nichts sehen. Ich bemerke, dass noch jemand neben mir weint.
Nach und nach setzen sich alle Mitpatienten wieder auf. Plötzlich stehen einige um mich herum. Einer streichelt mich, der nächste räumt meine Matte und Knierolle weg.
Auf dem Weg zur Station umringen sie mich. Es kommt mir vor, als hätten sie einen Schutzwall um mich gebaut.
Ich fühle mich beschützt. Das ist angenehm, Menschen um mich zu wissen, denen mein Wohlergehen am Herzen lag.
Als wir oben sind, erzähle ich, was ich gesehen hatte. Die anderen sind sehr beunruhigt und holen die Schwester.
Wir sitzen lange zusammen. Ich berichte, wie es mir ergangen ist.
Die Schwester fragt, ob ich eine Tablette brauche oder es so versuchen möchte. Ich versuche es.
Die Schwester nimmt mich mit ins Schwesternzimmer. Wir schauen uns ihre Fotos an. Eine nette Art, mich abzulenken. Es hilft!
Später gehe ich in die Küche und schaue den anderen beim Kochen zu.
Auf einmal kommt der Mitpatient, der mich auch beim Rückweg so schützend begleitete. Er sagt: "Ach, hier bist du. Ich habe hier etwas für dich." Er drückt mir ein geschältes Stück Gurke in die Hand. "Ich habe gerade meinen Obst- und Gemüsetag."
Das finde ich rührend. Er ist so ein Stiller, fast möchte ich sagen: Einzelgänger. So zeigt er sein Mitgefühl. Nichts Besonderes, aber mit enormer Wirkung.
Meine Gisela ruft an. Erzähle ihr alles vom Nachmittag. Sie ist entsetzt. Was kommt noch alles an die Oberfläche?
Am Abend ruft mein Bruder an – wie verabredet. Neulich waren wir beide viel zu aufgeregt, um weiter zu reden.
Jetzt erzählt er mir, was damals passiert war.
Er war ungefähr elf oder zwölf Jahre alt. SIE war betrunken und legte sich zu ihm. SIE versprach ihm, wenn er tut, was SIE will, kann er später Fernsehen gucken. Er musste an ihr im Genitalbereich herumhantieren.
Er hat sich sehr geekelt. Endlich war SIE eingeschlafen und es hatte ein Ende.
28 Jahre ist das her. Er hatte nie zu jemandem etwas gesagt. Jetzt, wo er einiges von mir gehört hatte, will er es nicht länger für sich behalten. Er will mir zeigen, dass ich nicht allein dastehe mit dem ganzen Dreck. Wir überlegen, ob wir es unserer Schwester erzählen sollten.
Das alles hat mich wieder sehr aufgeregt. Ich stelle mir wieder die Frage: "Habe ich nicht genug auf meine Geschwister aufgepasst? Hätte ich das verhindern können?" Wer weiß, was mein kleiner, schon verstorbener Bruder alles erlebt hat.
Es schnürt mir die Kehle zu, wenn ich daran denke.
   
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