Die Glücksfrau

gluecksfrau

16. Kapitel -Auszug-

Gedanken jagten Worte in Sätze. Sie düsterten durch die Nächte, bis ich sie zu bannen versuchte. Meine Hände griffen nach ihnen und schrieben sich die Finger wund. Eva war zu mir zurückgekommen. Der Winter lag hinter uns, und ich hatte ihre Geschichte noch immer nicht fertig erzählt. Dabei sind die dunklen Monate ideal zum Schreiben. Ich hatte mich zu tief ins Leben anderer ziehen lassen. Retter spielen wollen und Untergänge vorbereitet. Beinahe meinen eigenen. Nichts Bleibendes geschafft. Eva liebte den Frühling. Daran hätte ich denken sollen. Andererseits war ich froh darüber. Halb erfunden, gehörte sie immer noch mir. Mir ganz allein. Sie wohnte in meinem Kopf. Manchmal machte sie sich selbständig, wollte hinaus ins Freie. Zu anderen Menschen, in andere Köpfe. Nie mehr käme sie so zurück, wie ich sie geschaffen hatte. Ich war die Mutter und hielt an meiner Tochter fest. Zu fest.
Denn Eva wurde ungeduldig.
Mutter willst du mir sein? Dass ich nicht lache. Wenn du so weitermachst, wirst du meine Oma.
Eva hatte ihre eigene Logik erkannt. Ich ließ mich von ihr entführen. Es war in einer Nacht, in der ich über sie nachdachte.
Komm mit, sagte sie.
So einfach war das für sie. Komm mit. Ich schloss die Augen und folgte ihr. Wir entdeckten auf einem Berg ein Stück Rasen.
Der Ort ist dir bekannt?
Ich schüttelte den Kopf. Eva breitete eine Decke aus.
Wir befinden uns auf dem Berg der Erkenntnis. Höhe, relativ. Je nachdem, was wir herausfinden. Noch besteht keine Absturzgefahr. Setz dich, sagte sie. Ich will dich keinesfalls nötigen, aber meine Geschichte ist schnell erzählt. Das weißt du. Ich bin die tüchtige Frau, die ihr Tüchtigsein nicht länger aushält. Das steht schon im ersten Kapitel. Du siehst, ich lese, was du schreibst. Nicht wie gewisse Leute, denen du Bücher schenkst, die du ihnen auch noch vorlesen sollst. Empfindlich bin ich schon, das stimmt und dadurch immer ein wenig unberechenbar. Wer so viel durchlebt hat wie ich, muss sich darüber nicht wundern. Klar doch habe ich Narben. Sie sind nicht sichtbar. Sitzen tief unter der Haut. In Hirnwindungen werden sie verwaltet. Zugang verwehrt. Tu nicht so, als hättest du das vergessen. Beraube mich meiner Sinne, dann werde ich mich an nichts erinnern. Nichts sehen, nichts hören, kein Duft macht mich nervös, kein Geschmack erzählt mir lustvoll aus meinem Leben. Ich bin in Sicherheit. Und natürlich schmerzfrei. Was sagst du dazu? Wunderbar, wie? Wunderbar wäre es, wenn du nicht so weich wärst.
Ohne Erinnerung bist du tot, sagte ich.
Dein Mitleid ist widerlich. Kommst du mir wieder mit Drohungen? Alles, was lebt, vergeht, eine alte Weisheit, nicht mal von dir. Das Jüngste Gericht wartet nicht nur auf mich.
Und es ist nicht dein verdammter Schlusspunkt. Setze ihn doch. Du fürchtest dich vor dem Tag, den ich Icks nenne. Weil du denkst, ein Tag Icks ist das Ende. Meiner war atypisch, denn er wiederholte sich. Obwohl jeder andere Tag einmalig ist. Icks kam immer öfter. Dann blieb er auch nachts. Himmelblau bis zum Morgen. Er hatte helle Augen. Sein Mund war gut gelaunt und versprach, was ich mir erträumte. Woher wusste er von meinen Wünschen? Er schickte mir Lorenz. Natürlich nicht den, der Nacht für Nacht neben mir im Bett lag und schnarchte. Nein. Am Tag Icks war Lorenz ein anderer. Er kam mir nach, wenn ich zum Boden hinaufgeschlichen war. Überall trafen wir uns und liebten wie verrückt. Volles Risiko. Auf dem Dach, später auf der Autobahn, auf der Müllkippe, im Steinbruch, im Sägewerk, auf der Achterbahn.
Stopp. Ich gebe zu, ich hatte Angst.
Liebe fragt nicht nach weichen Polstern. Liebe ist überall, sagte Lorenz. Und am Tag Icks ist sowieso alles vorbei. Für dich. Ich aber, ich bin unsterblich. Ein Gott. Du musst an mich glauben. Sterben wirst du sowieso. Ich habe die Macht, ich kann dich glücklich sterben lassen.
Er ist kein Gott, sagte ich.
Ach du. Eva hielt mir den Mund zu.
Weit und breit kein Gott zu sehen.
Das überzeugte sie nicht.
Du hast nur Angst, mich zu verlieren. Darum lässt du mich so ewig warten. Du glaubst, nach dem Schlusspunkt kommt nichts mehr. Nichts mehr für dich. Du musst mich ziehen lassen, verstehst du? Endlich. Davor fürchtest du dich. Du benutzt mich, um von dir abzulenken. Das ist die traurige Wahrheit. Ausgerechnet du willst mir weismachen, was ein Gott ist?
Alles, was Eva sagte, stimmte. Sie tat mir leid, weil sie ohne mich keine Chance hatte. Ich bewunderte ihre klaren Gedanken.
Wenn ich mit dir fertig bin, bist du tot, sagte ich.
Eva lachte.
Du willst mich sterben lassen? Irgendwo in deiner eigenen Depression soll ich verkommen? Das schaffst du nicht.
Darüber wollte ich nicht mit ihr streiten.
Du hast einen Fehler gemacht, sagte Eva.
Sie sprach nicht gleich weiter, sie ließ mich zappeln. Ich fragte nach: Was meinst Du mit dem Fehler? Was habe ich deiner Meinung nach falsch gemacht?
Du hast mich zu deinem Doc geschickt, sagte Eva. Erinnerst du dich nicht an das Kapitel vier oder fünf? Du hast es doch geschrieben. Er rettet mich. Er rettet alle. Und die Geretteten sind in ihn verliebt. Siehst du. Ich gehöre dazu. Und du sowieso. Das weiß ich schon lange.
Mich hat keiner gerettet, sagte ich. Ich brauche auch keinen, der mich rettet.
Brauchst du nicht, sagte Eva. Dabei lachte sie wieder. Sie stand auf und lief ein paar Schritte auf den Abhang zu.
Wie sollte ich sie zurückhalten? Hilfe Hajo, ich weiß nicht weiter!
Aber Hajo war nicht in der Nähe. Brauchen wir wirklich einen Gott, dachte ich. Wenn es ihn gäbe, könnte ich darauf vertrauen, irgendwann wird alles gut.

   
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