Susanne auf Reisen
Hajo umarmte mich lange, als wolle er mich nie mehr loslassen.
Was ist, fragte ich schließlich, zeigst du mir deine Stadt?
Später, sagte er. Vielleicht. Mal sehen. Schauen wir mal.
Ich bin nicht Katharina.
Das macht es nicht leichter, sagte er.
Glückshormone brachten mich durcheinander. Mein Kopf schüttelte sich in dem Irrsinn. Aber es half ihm nichts. Zum Glück.
Ich wollte mir Hajos Stadt unbedingt ansehen. Dass Hajo am gleichen Wochenende in seine alte Heimat fuhr, war ein wunderbarer Zufall. Einfach Spitze, hatte er gesagt. Wir wollten besprechen, was er mir zeigen würde. Aber Hajo kam immer wieder davon ab. Er hatte viel zu viel zu erzählen. Vom Kirchgang am Sonntag in der Früh. Von seiner Schwester, die abends aus dem Fenster stieg. Vom Bürgermeister. Der war groß und kräftig. Wenn er lachte, tanzten die Knöpfe seiner Weste, die sich knapp über seinen Brustkorb spannte. Gegen ihn wirkte der Vater zierlich. Er war ein Kopf kleiner. In seinem Anzug sah er verloren aus. Man könnte denken, der Anzug trug ihn. Hajo schlug am liebsten einen großen Bogen um die Männer.
Von der Mutter erzählte er, wie er sie zur Verzweiflung brachte. Da war er noch ein sehr kleiner neugieriger Bub. Dass Hajo so viel erzählte, zeigte mir, wie sehr er sich über meinen Vorschlag freute.
Zu Hause wusste niemand von dem geplanten Abstecher ins Fränkische. Ich hatte Mut zu Geheimnissen. Mein Glück wollte ich nicht verstümmeln.
Hajo löste sich endlich aus dem Schrecken.
Ich bin einfach k.o., sagte er. Hier schalte ich ab. Blende alles andere aus.
Dann fragte er, wo ich das Auto geparkt habe, wann ich angekommen war.
Seine Cousine war bereits unterwegs. Sie arbeitete als Verkäuferin von Jagd- und Lederwaren. Das Geschäft hatte sonnabends bis 14.00 Uhr geöffnet. Ich war mit Hajo allein im Haus und wollte brav im Treppenhaus warten. Hajo lachte mich aus. Wir stiegen treppauf. Er schob mich ins Gästezimmer. Die Gäste, die hier einkehrten, gehörten alle zur Familie oder zum Freundeskreis. Familienfotos hingen an den Wänden. Einige Ansichten kannte ich. Hajo bewahrte seine Fotos in einem Schuhkarton auf. Mutter, Schwester, die kleinen Geschwister. Ein Foto zeigt sie auf der Bank im Garten. Sie drängen sich lachend aneinander. Vater und der Onkel in der Wirtschaft. Ingrid mit dem Puppenwagen. Eine Pfadfindergruppe, Hajo konnte von jedem erzählen. Vor allem von Barbara. Die strengen Sitten verloren ihre Konturen. Mädchen bei den Pfadfindern, das war früher undenkbar. Da gab es noch eine, die ihn interessiert hatte. Sie hieß Franziska. Mit ihr fuhr er nach Frankreich. Schüleraustausch. Auch davon gibt es ein Foto. Aber das hing hier nicht. Vielleicht hätte er Franziska geheiratet, wenn sie nicht weggezogen wäre.
Als er das sagte, fiel mir auf, dass er nie gegen das Unabänderliche rebellierte. Es vermutlich nie versucht hatte. Er nahm alles, wie es kam, und machte das Mögliche für sich daraus. Barbara hatte sich gerade mit ihrer Schwester gezankt und so kam, was kommen musste. Hajo tröstete sie.
Wir haben das Leben probiert, aber wir konnten uns nicht ausprobieren. Das hat irgendwie nicht gepasst, weil wir gedacht haben, wir verpassen was. Du weißt schon, die Kinder kamen früh und ungeplant. Wenn sie da sind, kann man sie nicht wegschicken. Ich versuchte, was Hajo erzählte, einzuordnen. Ende der sechziger Jahre wurde Ohnesorg erschossen, die Studenten wagten Aufstand.
Das Land Bayern war fest in CSU-Hand. Aber trotzdem gab es Veränderungen, die von den alten Herren beklagt wurden. Die Bekenntnisschulen öffneten sich. Strenggläubige Katholikenkinder saßen nun neben Protestanten oder Atheisten.
Alles war in Bewegung. Die Regeln veränderten sich. Das haben wir natürlich gespürt, sagte Hajo. Als er Vater wurde, war er noch Student. Er versorgte den Sohn, denn Barbara arbeitete schon.
Ich saß am Tisch und durchblätterte die Zeitung. Seniorenspielplatz. Ich konnte nicht an dem Foto vorbei. Sitzbretter auf Schaukeln mit bequemen Seitenschalen. Darauf hocken nun die Achtundsechziger, erzählen von ihrem Aufstand und lassen sich füttern. Komm auf die Schaukel, Luise! Was für ein Tatort! Mir wird schwindlig. Unser täglicher Kampf heißt Pflege. Woher sollen die großen Entwürfe kommen?
Das Seminar in Minnig wurde von einer Dame mit auffallend weißer Schleife im Rücken begleitet, sagte ich.
Ich glaube, ihr ganzes Kleid bestand nur aus dieser Schleife.
Es schien eine Gesinnungstracht zu sein. Strenggläubige Parteifreundin. Sie bekannte unumwunden, man solle nicht länger von Vollbeschäftigung träumen. Die Zeit, in der angestrebt wurde, dass alle Arbeit finden, sei endgültig vorbei.
Richtig, sagte Hajo.
Sagte er es, um mir zu widersprechen oder dachte er wie die Schleifendame? Die warb für ihr Parteiprogramm.
Wir brauchen Angebote für unsere Bürger, die ihre entstandene freie Zeit sinnvoll füllen. Das ist die Zukunft! Und das ist unsere Aufgabe.
Weil Empörung hochkochte, rauschte sie davon.
Da ist ein spannender Artikel in der Zeitung, sagte Hajo, während er seine Sachen zusammenräumte. Er reichte mir eine Banane, damit du nicht umfällst.
Mir war flau im Magen, aber nicht vor Hunger.
Wie würdest du Tatort definieren, fragte ich ihn.
Nu ja, sagte er und kam mir gefährlich nahe.
Ich las schnell in der Zeitung weiter, aber verstand kein Wort mehr. Woher kam die Aufregung? Sie lähmte mich. Als Hajo hinter mir stand, wurde mir heiß. Ich spürte seine Nähe. Er beugte sich zu mir herunter. Seinen Atem fühlte ich in meinem Nacken. Mein Haar kräuselte sich erschrocken. Die Haut zog sich zusammen oder weitete sich. Vielleicht beides. Beides zugleich? Keine Ahnung. In seinem Haus war ich oft mit ihm allein. Manchmal bis in die Nacht. Hier fühlte sich das anders an. Ich war in sein Leben eingedrungen. In diesem Zimmer war er herangewachsen. Allgegenwärtig die große Schwester. Er musste mit ihr auskommen, sich mit ihr streiten und vertragen, sie austricksen und ihr nachspionieren. Vielleicht war er mit seinen Freundinnen hier. Zum Beispiel mit Barbara. Wieso vielleicht? Ganz bestimmt.
Wo habt ihr euch getroffen, fragte ich.
Auch auf dieser Frage lag eine seltsame Stimmung.
Hajos Erinnerungen lebten auf. Das spürte ich. Er umarmte mich und flüsterte mir die Antwort zu.
Überall.
Dann lachte er frech.
Sein Überall hatte nichts mit Barbara zu tun. Meinte es mich? Er brachte mich durcheinander. Die Last der letzten Tage drückte mich zusammen. Wenig Schlaf, die Veranstaltung in Minnig, die Fahrt. Ich hatte schon früh das Hotel verlassen. In großer Vorfreude und Aufregung. Die Anspannung legte sich schwer auf meinen Rücken. Sie machte mich hilflos. Ich könnte dem Augenblick nachgeben und zurückgewiesen werden. Ich könnte abrupt aufspringen und Distanz schaffen. Ich könnte, wenn ich könnte, nichts. Der Boden unter meinen Füßen schwankte.
Ich hielt mich an der Zeitung fest. Hajo fasste mein Oberarme und zog mich vom Stuhl. Er stellte mich hin. Ich fühlte mich wie eine Schaufensterpuppe. Halte doch mal still, sagte er und legte einen Arm ganz um mich. Ich war in seinen Griffen gefangen. Er dehnte und zog an mir herum. Es knackte in der Wirbelsäule.
Aua, wehrte ich mich.
Sehr gut, sagte er. Ganz locker. Als wärst du eine Mumie. Das ist gut für deinen Rücken. Noch bin ich keine Mumie, protestierte ich.
Hajo überhörte meinen Einwand. Das könnte Alex auch hin und wieder bei dir machen. Warum holte er ausgerechnet jetzt Alex in diesen Raum. Ich wollte nicht an Alex denken. Alex war für ein paar Tage bei Ulrike.
Tatsächlich war der Druck auf die Schulterblätter weg.
Ich nickte als Hajo fragte, können wir jetzt los?
Er führte mich durch Himmeroth. Bergab zur Saale. Vor der Brücke war der Parkplatz. Dort stand mein Auto. Ich holte den Fotoapparat heraus.
Habe mich schon gewundert, sagte Hajo. Irgendwas fehlt doch. Und wo sind die Blumen?
Er machte sich über mich lustig.
Nicht nach jeder Lesung gibt es Blumen. Die Sitten werden rau.
Wir stiegen bergauf bis zu dem letzten Haus auf der rechten Seite. Hier hat Barbara gewohnt, sagte er.
Ein Einfamilienhaus, das gut in die Straßenreihe passte. Schmales Vorgärtchen mit bunten Astern und roten Rosen. Gepflasterte Einfahrt zur Garage. Blumenkorb neben der Haustür. Mir war, als träume ich. Ich machte ein paar Fotos. Wohl war mir nicht dabei. Jederzeit konnte Barara herauskommen.
Hier hast du also schon morgens auf sie gewartet, sagte ich. Oder habt ihr euch das nicht getraut?
Ich mach doch keinen Umweg.
Warst du nicht verliebt?
Hajo dachte nach. Über eine Antwort, oder fragte er seine Erinnerung?
Das Haus hat die Schwester geerbt. Jetzt ist es verkauft worden, sagte Hajo.
Dann beschrieb er mir endlich den Schulweg. Zeigte, wo sie aufeinander warteten. Barbara und Johannes. Irgendwann hatte jemand ihre Namen mit Kreide groß über den Asphalt geschrieben. Sie lieben sich. Aber es war ihnen nicht peinlich. Sie fühlten sich bestätigt. Kinder der neuen Generation.
Ich war eine gute Partie, sagte Hajo. Als Sohn des Kämmerers hätte ich Bürgermeister werden können. Oder Bankdirektor. Schulmeister oder Parteichef. Oder ein General. Auf jeden Fall hatte ich Karriere vor mir. Aber ich wurde Mediziner.
Zum Glück, sagte ich und stieg auf einen umgekippten Stein.
Wer hoch hinaus will, braucht hohe Sockel.
Ich war verliebt in den Augenblick und breitete die Arme aus, als wolle ich fliegen. Hajo hob mich herunter und setzte mich vorsichtig ab. Ich sah zu ihm auf. Sein Mund kam mir entgegen. Ich lachte ihn weg, denn ich war sicher, wenn seine Lippen meine Lippen berühren, falle ich um und bin mausetot.
Nu ja, sagte er. Es ist lange her.
Er fasste über den Zaun, brach eine Rose und steckte sie mir ins Haar.
Blumen für die Künstlerin, sagte er.
Die Welt ging nicht unter. Ich taumelte ein paar Schritte benommen und fühlte mich durchschaut. Nichts Abscheuliches war passiert. Am Sonnabendvormittag trug ich eine rote Rose im Haar. Die war ausgerechnet aus dem Garten, der sich mit Erinnerungen an Barbara verband. Ich wollte nicht darüber nachdenken. Mein Herz blühte auf. Ich hüpfte leichtfüßig neben Hajo her. Wir gingen zurück in die Stadt. Die ersten Geschäfte tauchten auf. Bäcker, Fleischer, Lederwaren. Sagen wir der Ingrid „Grüß Gott“. Es läutete, als wir das Geschäft betraten. Wir waren die einzigen Kunden.
Schön, dass du vorbeischaust, sagte die Verkäuferin und ließ sich von Hajo umarmen. Bevor sie mich fragen konnte, was darfs denn sein, stellte mich Hajo vor.
Daraufhin lächelte sie mich an und nickte mir zu. Wir gaben uns die Hand. Ich sah das kleine Mädchen mit Puppenwagen auf dem Foto vor mir. Aus ihr war eine hübsche Frau geworden. Um die Fünfzig etwa. Das Haar fiel ihr glatt bis in den Nacken. Ihre Augen waren hell. Sie hatte diesen Hajo-Blick. Mir fiel der kleine Leberfleck über der Oberlippe auf. Der tanzte, wenn sie sprach. Sie trug eine weiße Bluse unter einer roten Weste, die den Blick bis zum Brustansatz freigab. Anziehend, nicht aufdringlich oder auf jung getrimmt. Es war ihre Natürlichkeit, die mich beeindruckte. Hajo besprach mit ihr Organisatorisches. Wann er wo sein würde und wer ihn sprechen wollte und ob er die Tante sehen will, die im Kopf klar, aber deren Körper hinfällig geworden ist.
Ich sah mich flüchtig im Geschäft um. Es roch streng nach Fell und Fett. Jagdmotive überall. Neinnein, sagte ich, als Ingrid mich fragte, ob ich in Himmeroth übernachten werde.
Ich sah auf die Uhr. Es war schon Mittag. Ich hatte noch eine lange Fahrt vor mir. Die Mutter wartete auf mich in ihrem verlassenen Harzdorf. Wir wollten den Umzug besprechen. Schon einiges vorbereiten. Vorm Winter noch würde sie zu uns ziehen. Zu spät wollte ich nicht bei ihr ankommen.
Wir verabschiedeten uns von Ingrid.
Die Sonne guckte zwischen den Wolken durch, als wir über den Marktplatz gingen. Buden standen dicht beieinander. Der Verkehr wurde umgeleitet. Gaukler kamen auf uns zu. Straßenfest in Himmeroth. Waffeln und Würste wurden verkauft. Wir trödelten uns durch die Stadt. Später gingen wir an der Stadtmauer entlang. Sie umschloss zur Südseite hin den Friedhof.
Jugendliche hockten in Nischen. Ihre Fahrräder lagen auf dem Rasen. Wie hilflose Wesen drehten sie ihre Räder himmelwärts. Hajo nahm mich an die Hand. Wir waren ein Paar.
Manchmal legte er seinen Arm um meine Schulter. Bitte nicht wieder den festen Griff, der mich einknackst. Bitte nicht Mediziner sein, bitte, sei nur mein Freund. Ich traute ihm alles zu. Mein Herz klopfte Alarm. Ein Alarm, der die Welt liebte. Sie dehnte sich wohlig bis in die Himmel und öffnete uns ihre Arme. Wir leben, Hajo, was für ein Glück!
Er schob die Pforte zum Friedhof auf. Vor uns die Kapelle, der Kiesweg, links und rechts gepflegte Grabstätten. Hin und wieder blieb Hajo stehen, um zu erklären. Den Toten schenkte er neues Leben, wenn er von ihnen sprach. Ich liebte sie, wie ich Hajos Stimme liebte, wenn er sich an sie erinnerte. Irgendwann stand er am Grab der Eltern. Er nahm ein buntes Ahornblatt aus dem Efeu. Liebevoll lag seine Hand auf dem Stein. Da fühlte ich, was ich schon lange wusste. Die Toten leben in uns, ob wir wollen oder nicht. Und Hajo gibt ihnen eine Chance. In dieser Stunde würde ich ihm alles verzeihen. Die Toten und die Lebenden waren miteinander verbunden. Die einen trugen die Last der anderen. Dieses Gefühl ergriff mich heftig. Später folgten wir dem Kreuzweg zur Kapelle. Ich kam ins Schwitzen. Die Steine waren feucht, meine Sohlen glatt. Hajo hielt mich fest und erzählte von alten Leuten, die dem Prozessionszug hier hinauf folgten. Manche quälten sich mit dem Aufstieg. Wer glaubt, leidet geduldig. Oben angekommen, hatten wir einen wunderschönen Blick auf Himmeroth. Der Herbst hatte seinen bunten Teppich ausgelegt. Dächer rissen ihm Löcher ins Muster. Kirchtürme durchbohrten ihn. Wind bauschte Wattewolken auf. Wir standen stumm nebeneinander. Ausflügler kamen vom Parkplatz herüber. Wortfetzen streiften uns. Hajo wurde munter. Er versuchte, mir von hier oben zu erklären, wo Barbara gewohnt hatte. Von unserem Haus, er zeigte nach links, runter zur Saale, aber nicht über die Brücke. Von dort führt ein Weg hinauf. Siehst du?
Da waren wir grad noch.
Ich folgte mit meinem Blick seiner Hand, die mir das beschrieb.
Den wilden Park dahinter gibt es noch. Wir hatten dort unseren geheimen Platz. Wir alle zusammen. Der Vater hätte mir was erzählt, wenn er das mit Barbara gewusst hätte.
Ich fasste ins Haar. Die Rose starb langsam.
Ich habe Hunger, sagte Hajo.
Ich muss los, sagte ich zaghaft.
Wie lange fährst du denn?
Keine Ahnung.
Ich weiß eine Wirtschaft. Ganz in der Näh.
Ich holte die kleine Kamera aus der Tasche, nahm die Landschaft auf, die Kapelle, die Stufen, Blüten, Käfer, Schnecken, Ameisen und Hajo. Der war überall. Wohin ich auch sah. Meine Fotos zeigten ihn in der Nähe und aus der Ferne. Ich lief voraus und hinter ihm her. Natürlich landeten wir in einer Wirtschaft.
Sie bot romantische Ausblicke. Im Tal sonnte sich die Stadt. Wir fanden Platz an einem Fenster. Die Bedienung war schnell.
Hajo bestellte einen Obstler, Knobline und Dätscher. Ich konnte mich nicht entscheiden. Fisch oder Fleisch. Einen Salat vielleicht? Fisch, sagte er. Der ist hier besonders zu empfehlen. Er hatte also Appetit auf Fisch. Passte gut zu seiner Knobline. Wusste er doch, ich würde nicht alles schaffen. Ich nippte an seinem Obstler.
Er fragte mich, woran ich gerade arbeite.
An unserem Buch, sagte ich.
Es ist dein Buch, widersprach er.
Magst du vorlesen?
Hier?
Ein guter Platz. Oder etwa nicht?
Schon, sagte ich.
Du hast ein paar Seiten dabei, sagte er.
Er kannte mich. Erst mal essen!
Eine neue Aufregung war in mir. Klar hatte ich einen Text dabei.
Siehst du, sagte Hajo, du bist durch und durch eine Schriftstellerin.
Ich senkte beschämt den Kopf.
Sei nicht so bescheiden. Verstehst, du darfst dich nicht verstecken.
Ich langweile dich nur, wandte ich ein.
Klar doch. Du schreibst fürchterlich langweilig. Nie im Leben langweile ich mich so wie mit dir. Besonders wenn du liest. Darum wünsche ich mir das auch immer wieder.
Das Essen wurde serviert. Wir wünschten uns Appetit. Aber ich stocherte im Essen herum. Sollte ich wirklich lesen? Es war alles so fragmentarisch. Katharina mit ihrem traurigen Gesicht. Sie wird Eva immer ähnlicher. Eva ist es doch, die mich quält. Ich habe sie vermischt.
Mit Katharina.
Du vermischt sie mit jeder Frau, die mich liebt, sagte Hajo.
Oh Gott, unsere Hände berührten sich.
Eva liebt dich, sagte ich. Er hob die Schultern. War unschuldig an meinem Chaos.
Eva ist glücklich, sagte er.
Schon gut. Ich packte die Seiten aus. Faltete sie auseinander und strich sie glatt. Links neben uns lärmte eine Jugendgruppe, rechts saßen ältere Leute. Im Nebenraum feierte eine Hochzeitsgesellschaft.
Hajo rückte näher zu mir heran.
Na gut. So schüchtern war ich nun auch nicht.
Das hatte er davon. Noch heißt mein Held Johannes, sagte ich. Ich werde ihn irgendwann umtaufen müssen.
Wenn das noch geht. Du weißt, es ist unsere Geschichte. Ich habe ihn erst einmal zum Mann im Regen gemacht.
Mann im Regen
Er stand da und lachte. Sturm zerrte an seiner Jacke. Gleich wird Regen herunterschlagen. Das Auto parkte in einer Einfahrt. Eine Frau hastete an ihm vorüber. Sie sah sich kurz nach ihm um, bevor sie weiter gegen den Sturm ankämpfte. Sie hatte ihn nicht erkannt. Sie konnte ihn nicht erkennen. Selbst wenn sie gewusst hätte, dass er in der Nähe ist, wäre sie nicht auf die Idee gekommen, dass dieser Mann etwas mit Johannes zu tun haben könnte. Dass er selbst Johannes sein sollte, unmöglich. Sein Bild steckte in einem schmalen Rahmen und stand neben dem Telefon. Früher hatte er oft angerufen. Dann spielte sie mit ihm. Ihre Finger strichen ihm Staub aus dem Gesicht. Meistens lächelte sie dabei. Meistens sehr traurig.
Wolken jagten gespenstisch über den Himmel. Der Mann lief dem Sturm entgegen. Jacke weit geöffnet schlug er mit den Armen, als wolle er fliegen. Mit dem Sturm über den Fluss. So stieg er auf. So fiel er aus dem Rahmen. Das interessierte ihn nicht. Es gab Augenblicke, da musste er hinaus, einfach so.
Vielleicht lachte er deshalb immer noch. Nichts und niemand konnten ihm etwas anhaben. Die Welt gehörte ihm. Wie Noah, der den grünen Zweig entdeckte, landete Johannes. Wenn auch nicht auf einem Hügel. Dieses Land war eben. Himmel schien unendlich. Immer noch gespenstisch schwarz.
Johannes knöpfte die Jacke zu. Irgendwo in diesem Dorf wohnte Carmen. Er hatte, als er ankam, bei ihr geklingelt. Aber alles war still geblieben. Hätte er vorher angerufen, wäre sie vorbereitet gewesen. Das wollte er nicht. Außerdem wusste er nicht, ob er wirklich den Umweg in das entlegene Dorf wählen würde.
Er fingerte aus seiner Brusttasche das Handy und wählte ihr Kürzel.
Hallo.
Hier auch Hallo.
Ach, sagte sie. Das ist jetzt nicht dein Ernst.
Guck mal zum Fenster raus, sagte er.
Aber! Sie hielt die Luft an. Überraschungen erschreckten sie.
Warum hast du nicht?
Weil ich nicht wusste!
Später lachten beide.
Im Kaminfeuer knisterte Holz. Johannes und Carmen schwiegen in die Wärme hinein, die ihn wohltuend trocknete.
Ich sah auf. Hajo hatte die Augen geschlossen. Die Hände lagen unruhig auf seinem Bauch. Der rechte Daumen rieb den linken Handrücken. Nebenan wurde gesungen. Irgendwer hielt eine Rede. Dann setzte Diskomusik ein. Ich faltete meinen Text zusammen und steckte ihn weg.
Carmen gehört zu den Menschen, die ich nie ganz verlieren werde. Sie ist sehr krank, sagte Hajo. Es bleibt ihr nicht mehr viel Zeit. Als ich sie kennen lernte, hatte sie gerade einen Suizidversuch hinter sich. Damals war ich noch Stationsarzt. Ich habe ihr meine Privatnummer gegeben. Die Belastung durch sie war für Barbara zu groß. Carmen rief mich zu Hause an, wenn sie mich brauchte. Auch in der Nacht. Wir führten lange Gespräche. Sie ist eine bemerkenswerte Frau.
Selten erzählte Hajo so zusammenhängend. Meistens antwortete er nur knapp auf meine Fragen.
Ich begegnete Carmen in seinem Keller. Damals zeigte Hajo mir sein Haus. Im Keller nahm er schnell noch die Wollsocken von der Leine, bevor er mit mir in Bücherkisten kramte. Wir stießen auf einen Karton voller Briefe. Er legte seine Hand auf meine, als ich dabei war, einen herauszuziehen. Carmen, sagte er. Das bedeutete Stopp!
Wenn die Briefe Stimmen hätten, würde der Keller stöhnen.
Irgendwann bekommt das alles auch den richtigen Platz in meiner Wohnung, sagte Hajo. Das glaubte ich ihm. Wie er die Bücher in die Hand nahm, von jedem konnte er eine Geschichte erzählen. Die wenigsten hatte er gelesen. Aber er liebte sie. Oder sich, weil er jedes einzelne erwählt hatte, ungeachtet der Zuordnung, die jedes Buch erleiden muss. Unterhaltung, Comic, Anspruch, Triviales, Kitsch, Schund. Alles würde eines Tages friedlich in einem Regal nebeneinander stehen. Wenn er „irgendwann“ sagte, dann war klar, das konnte dauern. Nur sehr langsam veränderte er, womit er sich umgab. Menschen, die ihn mögen, werden lächelnd von Buchrücken zu Buchrücken wandern. Vielleicht werden diese Rücken Brücken zu ihm sein. Er errichtet goldene Brücken. Wer sich darüber traut, gewinnt. Gewinner gegen seine Angst, gegen die Todessehnsucht. Hajo lässt nicht zu, dass sich einer von seinen Brücken stürzt. Er hat Signale eingebaut. Wie auf der „Golden Gate“, auf der man in kurzen Abständen Telefone angebracht hat. Sie helfen nicht, weil der Autolärm kein Hilferuf zulässt. Sprung in die „Schöne Aussicht“. Aus.
Hajos Brücken öffnen fremde Welten. Manchmal illustriert, manchmal vergilbt. Und dann wird geredet, gegessen, getrunken, berührt.
Während ich darüber nachdachte, klingelte sein Telefon.
Er wusste, dass es Carmen war. Und so lernte ich sie kennen. Zunächst durch die Farbe seiner Stimme. Sie hatte einen warmen Unterton, roch ein wenig nach Keller.
Später zeigte er mir ein paar Skizzen von ihr. Sie arbeitete mit Textilien. In einer Grafikmappe bewahrte er Fotos, Flyer und Presse auf. Gewebte Träume. Lyrik in Seide. Sprache und Stoffe. Freunde halfen ihr vor einigen Jahren, sich ein Atelier einzurichten. Jedes Jahr vor Weihnachten kaufte er bei ihr Geschenke für Freunde ein.
Und nun war sie in meine Geschichte gerutscht. Damit holte ich sie in unseren Tag.
Kommt sie zu deiner Geburtstagfeier, fragte ich Hajo.
Ich habe keine Zeit zum Feiern.
Eine Pause entstand. Von Verena wusste ich, dass er sich zu seinem Geburtstag im Haus verkriecht. Weder ans Telefon noch ans Handy geht. Ich sah ihn schon im Keller hocken und vergilbte Briefe lesen.
Du magst Carmen sehr. Hast du mit ihr geschlafen?
Unglaublich, würde Verena sagen. Du bist unglaublich. Ihr „unglaublich“ verlockte sie immer zu Wiederholungen, weil sie nach Steigerungen suchte.
Nun hatte ich auch noch Verena an unseren Tisch geholt. Sie lächelte mir zu. Das bedeutete, du machst das gut, das könnte ich nie.
Ich weiß es einfach noch immer nicht, ob ich allein sein will oder ob mir echt jemand oder irgendetwas fehlt. Ich lebe allein und spür das nicht, sagte Hajo. Ich bin immer von Menschen umgeben.
Ganz schön verrückt, antwortete ich. Psychiater müssen ein bisschen verrückt sein, fügte ich hinzu.
Du lebst mit allen Frauen, die du gerettet hast und die du retten wirst. Und dann gibt es noch die hübschen Kolleginnen.
Geburtstag ist natürlich ein wunderbarer Tag, traurig zu sein, sagte Hajo unbeirrt. Endlich Trauer, für die im Alltag kein Platz ist. Freude auch. Und Hoffnung. Vielleicht hat Hajo dieses Fernweh im Gesicht gehabt.
Zwischen dem Gehochzeite um uns herum wurde uns beiden kalt. Hajo reichte mir seine Hände. Seine Temperatur fiel eine Oktave tiefer aus als meine.
Eine Frau am Nebentisch vermutete, wir seien Hiesige. Sie wollte von uns einen Wanderweg erklärt bekommen.
Wir sind Touristen, sagte Hajo. Das klang, als mache er sich lustig über sich selbst. Er musste sich hier doch schließlich auskennen. Das hörte man doch, wenn er redete.
Erst später sagte ich zu der Frau so moderat, wie ich nur sein kann, wir haben zu lange in den Himmel gesehen.
Was immer die Frau nun dachte, bekam ich nicht mehr heraus. Sie wandte sich brüskiert ab. Als sie gegangen war, rückte Hajo in die Ecke. Nun saßen wir uns gegenüber. Ich trank Wasser und er bestellte Wein.
Ich bin unsolidarisch, sagte er, ich muss heut ja nicht mehr fahren. Wir hatten mal wieder alle Zeit füreinander.
Du wirst irgendwann mal sehr einsam sein, sagte ich, als wir allein am Tisch saßen.
Und wenn schon, deutete er an.
Hajo erzählte von dem Haus, das er bauen wird und in dem er nicht allein leben wollte. Nur jetzt, jetzt konnte er sich nicht für das Zusammenleben mit einer Frau entscheiden.
Aber wenn Katharina dich verlässt, fragte ich.
Hajo hatte seinen Zwei- oder Dreitagebart. Verwegen sah er aus. Dazu Kerzenlicht. Ein Brautpaar im Haus. Noch sehr jung. Die armen Kinder.
Hajo lächelte wissend in sein Glas.
Als ich mit Katharina ins Bett ging, hab ich in ihr die Freundin verloren. Sie war nun meine Geliebte. Das ist etwas anderes. Wenn sie mit mir Schluss macht, das würde mir schon wehtun, sagte er. Es kriselt zwischen uns. Mit einer anderen Freundin fing das im Vorfeld ähnlich an. Bestätigt sich wieder mal, dass Nähe einfach die Erwartung auf Zusammenleben weckt. Aber wirklich allein sein, Hajo, das geht doch nicht, sagte ich und drückte die Eifersucht auf seine Freundinnen weg. Du bist ein Mann, du kannst doch nicht abstinent leben, also erzähl mir jetzt nichts.
Doch, sagte Hajo. Ich kann. Ich brauch Sex nicht unbedingt.
Und dann kam er in Erklärungsnöte.
Nicht, dass Sex nicht schön wäre, sagte er, wirklich, ich …
Er wirkte verlegen.
Er merkte, wie verwundert ich ihn ansah.
Was auch immer ich dachte oder glaubte, es wurde bedeutungslos.
Wirklich, sagt er, Sex ist wunderschön, versteh mal, aber ich brauch das nicht unbedingt.
Sex sagte er, dabei meinte er Liebe oder doch Sex oder was auch immer.
Und wieder sah ich ihn ungläubig an.
Und wieder versuchte er, sich zu erklären.
Mit Barbara, sagt er, ich war abhängig. Wenn ich in Stimmung kam … Ich meine, das hat sie ausgenutzt.
Ich weiß jetzt nicht mehr, ob er das so gesagt hatte. Sie hat das ausgenutzt oder sie hat mich manipuliert. Oder ganz ohne Schuldzuweisung ausgedrückt, ich hab mich manipulieren lassen. Ich war jung und leicht erregbar. Angemacht und auf Eis gelegt zu werden, das ist schmerzhaft.
Aber Abstinenz, ich versuchte ihn wachzurütteln, das ist doch schade um die Lebenszeit.
Sagt Katharina auch.
Das hast du mit ihr besprochen?
Um Himmelswillen. Ach Hajo. Wenn ich deine große Schwester wäre, würde ich dir sagen, du musst noch viel lernen.
Es war später Nachmittag geworden. Und wenn ich noch so gern geblieben wäre, ich musste los. Wir zahlten. Die Sonne hatte das Tal verlassen. Der Weg bergab schien nicht zu enden.
Ich fragte Hajo, wie lange er noch in Himmeroth bleiben wird.
Morgen fahre ich weiter, sagte er. In Nürnberg vorbeischauen. Und dann bin ich auf der Bundesdirektorenkonferenz.
Ein verdammt langes Wort, bemerkte ich.
Das Elefantentreffen, sagte er. Dann ist mein Ausflug beendet. Sie werden schon auf mich warten.
Sie? fragte ich. Sag einfach Verena, wenn du Verena meinst. Ich weiß doch, dass sie für dich mitarbeiten muss.
Tut sie gern, sagte Hajo. Sie schont mich. Aber sie ist nicht dazu da, den Chef zu schonen. Das ist zwar bequem für mich, aber ich darf es nicht zulassen.
Mein Himmel zog sich zu. Hajo entglitt mir, bevor ich ihn verließ. Ich wollte den Augenblick festhalten. Wenigstens einen Zipfel davon.
Wunderschöne Erinnerungen bleiben, sagte Hajo und kam zurück in unseren Tag.
Auf dem Parkplatz angekommen, umarmten wir uns. Soll ich dich noch nach Hause fahren? fragte ich.
Hajo ermahnte mich.
Unsinn. Du willst mich auch nur schonen. Ihr Frauen seid unmöglich.
Das gefällt dir doch.
Nu ja, sagte er. Dein Weg ist lang genug. Gemütlich fahren, heißt besser reisen. So ein Spruch flatterte mir um die Ohren.
Ja, Papa, sagte ich.
Das Lenkerschloss klemmte, als ich starten wollte.
Das Auto will auch hierbleiben.
Versuch es halt noch mal.
Ich ruckelte und rackelte am Lenkrad. Hajo hob die Hand zum Abschied. Er trat ein paar Schritte zurück. Endlich sprang der Motor an. Vorsichtig rollte ich aus der Parklücke.
Ich ließ das Fenster herunter.
Danke für den Tag, sagte ich, als Hajo neben mir war. Eine Weile sah ich ihn noch im Rückspiegel. Dann verlor ich ihn aus dem Blickfeld.