Angekommen im Nirgendwo (Artikelnummer: ISBN 978-3-942401-44-9)

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Als das Manuskript dieses Buches fertig war, zog die Autorin um. Wieder einmal. Wenn man ein Leben in Abschnitte einteilt, so war erneut einer zu Ende.


Textauszug:

Siebenundzwanzig Jahre

I
“ ein Ordnungsversuch “
Kontrollieren und Herrschen waren deine Welt,
und bis zum Ende der goldene Tanz ums Geld.
Verbissen wollte ich nicht sein.
Perfektionismus, Strenge und biedere Ordnung waren dein
Vielfalt und Farben über den Tag hinaus
waren dir bei mir stets ein Graus.
Du nanntest dich Mutter, es war nur Getös.
Jetzt bist du tot, und ich bin erlöst.

Diesen Text schrieb ich 2003, nur für mich. Nicht einmal meiner besten Freundin habe ich ihn bis heute vorgelesen. So lange wirkte in mir nach: Sei brav und artig, zeige keine Gefühle. Trauer, Schmerz, Wut und ebenso überschwängliche Freude wusste die Frau meines Vaters im Keim zu ersticken mit Strafen wie Stubenarrest, Fernsehverbot und reglementierenden Sätzen wie: žBenimm dich gefälligst, du verlogene Schlange. Du spielst doch sowieso nur Theater.œ
Offenbar hatte sie von meinem neunten Lebensjahr an bis ins Jugendalter Macht über mich, bis ich mich gewaltsam losriss, wie ein Hund die Ketten durchbiss und achtzehnjährig 1983 mit meinem Kind dieses Zuhause verließ.
II
Was wäre gewesen, wenn wir uns nie begegnet wären?
Ob Marlies mit ihrer Mutter bis an ihr Ende in dem kleinen Backsteinhaus mit angrenzendem, großen Garten in der Nähe von Wittenberg gewohnt hätte? Wäre sie glücklicher geworden, wenn sie Landschullehrerin geblieben wäre?
Und ich? Welchen Text hätte ich stattdessen geschrieben?
Wäre ich in der Gosse gelandet, wie es mir diese Adoptivmutter so oft vorgehalten und prophezeit hatte? Der Satz von Marlis: žWenn es dir auf der Straße besser gefällt, dann bleib doch dort!œ, schmerzte heftig.
Der Kampf gegen Vorurteile war für mich so aussichtslos.
III
Im Sommer 1972 kam ich als achtjähriges Kind aus dem Ferienlager zurück, meine leibliche Mutter war nicht mehr da, und in der Wohnung standen neue Möbel.
Viele Jahrzehnte später, erst nach Marlies˜ Tod, fand ich die Scheidungsunterlagen meiner Eltern. Meine Mutter Ilse befand sich damals in dem Alter, in dem ich heute bin. Erst jetzt, siebenundzwanzig Jahre nach ihrem Tod, interessiere ich mich wirklich für sie.
Wie kam es zu ihrer Alkoholkrankheit, die unsere Familie zerstörte?
Was war sie für ein Mensch?
Welche Wesenszüge von ihr finden sich in mir wieder?
Was machte ihr Freude?
Welches Schicksal traf sie in ihrem Leben?
IV
Bei meinem letzten Umzug fand ich in einer Schublade die Flöte wieder, die zum einzigen Erinnerungsstück wurde, das mir meine Mutter geschenkt hatte.
Und dann fiel mir aus einem Hefter eine Blattsammlung entgegen. Ich las das vergilbte, mit Maschine geschriebene Papier aus dem Jahr 1955. Ilse hatte eine heitere Sommergeschichte geschrieben. Dabei lagen zwei Fotos. Sie stand auf der Bühne und sang mit anderen gemeinsam. Ihre schwarzen, kurzen Haare passten gut zum žkleinen Schwarzenœ. Ihre ganze Erscheinung wirkte elegant, vom Nagellack bis zur Kette. Sie wollte gefallen, das war offensichtlich.
In dem Umschlag fand ich noch eine gereimte Geburtstagskarte an sie von meinem Vater.
Dann blätterte ich doch in Familienalben “ die Fotos vermitteln Liebe zwischen Mutter und Vater. Ich besitze ein Buch mit dem Titel žMutterliebeœ. Mein Vater schenkte es seiner Frau zu meiner Geburt. Die Widmung lautet: žIch danke Dir für den glücklichsten Tag in meinem Leben.œ An diese Liebe kann ich mich nicht erinnern.
V
Als ich sechzehn Jahre alt war, fand eine Routineuntersuchung in der Schule statt. Auf der Karteikarte las ich žzweitgeborenes Kindœ. Ich regte mich auf, wieso dort so ein Unsinn stand. Ich bin Einzelkind. Doch die Fürsorgerin machte mir klar, es stimmte.
Ich rannte an diesem Tag atemlos nach Hause. Vater konnte am Abend nicht einmal seine Schuhe ausziehen, da bestürmte ich ihn schon mit meiner brennenden Frage: žWo ist mein Bruder oder meine Schwester?œ Vater sprach langsam, mühsam bemüht, sich nicht aufzuregen. Der Name Ilse wurde in unserer neuen Familie nicht erwähnt.
žMädchen, es war wohl im eiskalten Hungerwinter 1947. Dein Bruder wurde nur ein Jahr alt. Er starb, weil sie keine Milch für ihn hatte. Kein Einzelschicksal, zwei Jahre nach dem Krieg. Alles lag in Schutt und Asche.œ
Ich weinte.
VI
Marlies lag im Sterben. Die Ärzte gaben ihr noch ein Vierteljahr. Ich kam gerade selbst aus der Klinik. Dort hatte ich den Entschluss gefasst, sie zu begleiten.
žDu kannst die Perücke abnehmen, wenn dir warm ist. Du brauchst dich nicht vor mir schämenœ, versuchte ich, sie sanft aufzumuntern.
Marlies herrschte mich an: žHier hast du fünfzig Euro, geh dir Kaffee und Kuchen kaufen!œ
Sie kramte in ihrer Tasche. Und mit barschem Ton setzte sie hinzu: žDu erbst doch sowieso alles!œ
Leise sprach ich: žHalt, nicht so. Wir haben nicht mehr viel Zeit. Erzähl mir von dir. Wie war dein Leben? Was dachtest du, als du Vater und mich damals kennen gelernt hattest?œ
Marlies setzte sich aufrecht, ich rückte ihr Kissen zurecht und nahm auf einem Stuhl neben ihrem Bett Platz.
žAch, weißt du, ich dachte, der Mann ist gutmütig und mit der Kleinen werde ich schon fertig.œ Ich fragte weiter: žWarum hast du so lange ohne Mann gelebt?œ
Marlies Augen füllten sich mit Tränen: žMein Vater war kein Nazi, aber er hat bei der NSDAP als Finanzbeamter gearbeitet. Die Russen haben ihn 1945 abgeholt. Da war ich zehn Jahre alt. Er starb im Gefängnis. Da hatte ich beschlossen, nie wieder zu lieben.œ
Ich schluckte und begriff in diesem Augenblick mehr von ihr, als sie bereit war, mir noch zu erzählen.
Im Gehen drehte ich mich um: Möchtest du, dass ich wieder komme?œ
Marlies winkte matt: žBitte, verzeih mir.œ
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