Einundzwanzig Stufen bis zur Tür (Artikelnummer: ISBN 978-3-946219-61-3)

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Ein Projekt des Pelikan e.V. "Mein Herz wird singen" 

In "Einundzwanzig Stufen bis zur Tür" lassen vierundfünfzig Autoren ihre Herzen sprechen, ihre Herzen singen, ihre Herzen tanzen. Alles ist möglich in der Literatur. 

Ich habe das große Glück, ich kann meine Gefühle aufschreiben, in Worte fassen. Kann auch über das schreiben, was nicht zu fassen ist in dieser Welt.
In manchen Schreib-Runden treffe ich andere Autoren, die mir Geschichten aus bewegtem Leben erzählen. Das ist mein Glück, macht mir das Herz weit, dieses Finden von Gemeinsamkeiten - wie, "Da bin ich vor Jahren auch glücklich gewesen. Schön war es!"
Schreiben hilft, seine unverwechselbare Geschichte, eigene Geschichten wieder neu zu entdecken und sie anderen, Enkeln und Nachgeborenen weiterzugeben.
Das kann diese Anthologie "Einundzwanzig Stufen bis zur Tür" von vierundfünfzig Autoren aus Sachsen-Anhalt und benannt nach dem Titel einer Geschichte der Autorin Johanna Bulz, vermitteln.
Einen Blick hinter manche noch verschlossene Tür zu erhaschen, kann spannend sein. Was andere, die Nachbarn schreiben, könnte auch Teil meiner eigenen Geschichte sein.
Ich kann meine Gedanken, das was mir auf dem Herzen liegt oder unter den Nägeln brennt, in Texte fassen. Eine Möglichkeit, welche mir mein Herz beim Schreiben weit macht.
"Vom Himmel durch die Welt zur Hölle und zurück" erzählen die Autoren. Es geht um Überwindung von Krankheit und Krisen, Freude am Leben, Staunen über die Schönheit der Natur und das Wissen um ihre Gefährdung.
Einfühlsam bereichert wird die Anthologie durch Fotos und Haiku des Fotografen Rolf Winkler.
Was macht froh, vielleicht sogar glücklich?
Warum muss alles, auch was wir lieben, vergehen? Wenn das nichts ist…
Gehen wir zusammen einundzwanzig Stufen bis zur Tür und lassen uns von den Texten berühren.

Günter Hartmann, Roland Stauf

 Textauszug:

 Johanna Bulz

 Einundzwanzig Stufen bis zur Tür

Wir stehen am Strand vor der Seebrücke. Die unzähligen Steine, die Muscheln sind geschliffen von den Wellen. Mein Mann, meine Tochter und mein Sohn besuchen mich heute während meines Reha-Aufenthaltes an der Ostsee. Für mich ist hier ein Ort der Stille. Und ich brauche diese Stille, um wieder zu atmen und zur Ruhe zu kommen.
Wir gehen die Holztreppe zur Seebrücke hinauf. Die Stufen sind schmal. Mein fünfundvierzigjähriger Sohn tritt unsicher auf die erste Stufe. Mein Mann und meine Tochter Sabrina sind schon halb oben. Doch Daniel traut sich nicht weiter.
"Komm Daniel, halte dich am Geländer fest und gehe jede Stufe für sich."
"Das ist aber schwer."
"Das schaffst du. Ich bleibe neben dir, dann hast du Halt."
Ich schaue zum Meer, der Wind treibt die Wellen, die Schaumkronen springen. Meine Gedanken wandern durch mein Leben. Erinnerungen werden wach.
Ich stelle meinen sechsjährigen Sohn an das Treppengeländer, lege seine rechte Hand auf den Handlauf und trete gebeugt hinter ihn. Helfend strömt mein Herz zu ihm.
Daniels Hörvermögen ist rechtsseitig eingeschränkt. Meine Worte kann er nicht verstehen. Schweigend hebe ich sein rechtes Bein an und setze es auf die erste Stufe. Dabei gebe ich seinem Rücken mit meiner linken Hand Halt.
Nun hebe ich das linke Bein auf die erste Stufe. Daniel ist so verkrampft, die Spastik so ausgeprägt, als würde ich Stahl anheben. Die Schienen an seinen Beinen quietschen.
In Gedanken stehe ich wieder mit ihm auf dieser Stufe.
Einen Augenblick verschnaufen wir. Ich streiche über seinen Lockenkopf. Nun schiebe ich seine Hand ein Stückchen am Handlauf weiter. Das rechte Bein hebe ich an, setze es auf die zweite Stufe. Meine linke Hand ruht schützend auf seinem Rücken.
Danach hebe ich das linke Bein auf die zweite Stufe. Wieder kämpfe ich gegen die Spastik. Und wieder quietschen die Schienen. Und wieder ist Zeit zum Verschnaufen.
In meinen Ohren dröhnt es, mein Körper fühlt sich an, als würde ich in einem Walzwerk arbeiten. Meine Haare triefen. Die Nachmittagssonne, die durch das Flurfenster auf die Treppenstufen fällt, wirft einen Hoffnungsschimmer.
Ich bewundere Daniels Willen und meine Hingabe und Disziplin. Ich bin seine Mutter, aber in Situationen wie dieser auch seine Therapeutin. Da verbiete ich mir meine Tränen.

 Schon nach der zweiten Stufe ist Daniel erschöpft. Er kann nicht mehr. Ich streiche über seine Wange. „Daniel, das hast du fein gemacht.“ Wortlos hebt er die Arme nach oben. Seine Augen sind zur Tür gerichtet. Das ist das Signal, dass er in die Wohnung an seinen Fensterplatz möchte. Er will mit den Autos spielen. Allein.
Das Erkennen der stillen Signale ist eine große Herausforderung für mich. Ich muss mich in Daniel hineindenken, um seine Gefühle zu erraten. Denn seine Mimik und Sprache sind durch die Gesichtslähmung erstarrt.
Fest an mich gedrückt trage ich unseren sechsjährigen Sohn, wie an jedem Tag, die übrigen neunzehn Stufen zur Wohnung hinauf und setze ihn an das Kinderzimmerfenster. Einen Moment bleibe ich im Türrahmen stehen und beobachte ihn. Er muss sich ausruhen. Die körperlichen Bewegungen müssen erst einen neuen Weg in sein Gehirn finden. Ich will mehr, ich will schneller. Aber auch ein kleiner Schritt ist ein Schritt in die richtige Richtung.

Wir üben heute, morgen und wer weiß wie viele Tage und Monate danach.
Ich glaube, seine Hilflosigkeit befeuert meine Reserven, meine Liebe, meine Gefühle sagen mir, ich muss ihn schützen.
Kurz vor seinem achten Geburtstag schafft es Daniel mit meiner Hilfe, unsere Wohnung über die Treppe zu erreichen. Einundzwanzig Stufen hoch.
Welch ein Erfolg für uns beide!
Es lohnt sich also, jeden Tag zu trainieren. Ich schreibe meinem Sohn die Kraft und Ausdauer eines Marathonläufers zu. Stufen, Bordsteine oder umherliegende Steine sollen keine Hindernisse mehr für ihn sein. Das ist das Ziel, das bedeutet frei zu sein!

Daniel legt vorsichtig seine Hand auf meinen Arm und ich lande im Hier und Jetzt.
Auch mit fünfundvierzig Jahren benötigt er bei schwierigen Treppen Hilfe.
Doch ich bin glücklich, dass er auf genormten Treppen die Fähigkeit besitzt, sie freihändig hoch und runter zu gehen. Ich bin stolz auf ihn und auf mich.
Daniel ist ein williger Schüler und ich bin eine gute und ausdauernde Therapeutin.
"Daniel bleib einfach locker. Du brauchst keine Angst zu haben. Ich bin bei dir. Und ich sage dir, du schaffst es!"
Daniel vertraut mir, nimmt die Herausforderung an und findet Schritt für Schritt den Weg nach oben.
"Siehst du, du hast es geschafft! Ich wusste es!"

Wir schauen auf das Meer. Mein Mann ist still und sieht in die sonnige Ferne. Das glitzernde Wasser verzaubert uns.
Sabrina schwärmt. "Mutti, haben wir Glück!"

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